Es war ein langer Kampf – und dann ging es in Deutschland plötzlich ganz schnell: Mitte Juni machten die Grünen die gleichgeschlechtliche Ehe zur Bedingung für eine mögliche Regierungsbeteiligung nach der Bundestagswahl im September. Als SPD und FDP wenig später folgten, rückte Bundeskanzlerin Merkel von ihrem kategorischen Nein zur völligen Gleichstellung homosexueller Paare ab. Sie erklärte die Frage zur Gewissensentscheidung und noch in der gleichen Woche billigte der Deutsche Bundestag mit den Stimmen der Grünen, FDP, SPD und Teilen der Union die „Ehe für alle“ – gegen die Stimme der Kanzlerin und zur Empörung der konservativen Fraktionen innerhalb der CDU und CSU.
LGBTQ-Gemeinden weltweit lobten die Entscheidung und betonten, vor allem, ihre Überfälligkeit. Auch in Israel waren die Reaktionen positiv: zwar wurde die Entscheidung bei den überregionalen israelischen Tageszeitungen nur mit einem kurzen Hinweis vermerkt, doch in den sozialen Medien wurde sie insgesamt begrüßt. Vor einigen Wochen waren viele Israelis selbst noch feiernd durch die Straßen Tel Avivs gezogen: Die LGTBQ-Parade der Stadt im Pride-Monat Juni zieht jährlich bis zu 200.000 BesucherInnen (bei einer Bevölkerung von nur ca. 8 Millionen Menschen) aus dem In- und Ausland an. Trotz der, auch für Deutschland vorbildlichen Tel Aviver Toleranz kämpft die israelische LGBTQ-Community mit eigenen Herausforderungen.
Immer wieder wird Israel für seine liberale Haltung und Rechtsprechung gegenüber homosexuellen Minderheiten gelobt. Doch laut Dr. Aeyal Gross, Professor für Internationales- und Verfassungsrecht an der Tel Aviv University und Spezialist für Genderfragen, verzerre dieses Bild die weitaus komplexere Realität: Während Tel Aviv zurecht ihren Ruf als homosexuellenfreundliche Stadt genieße (immerhin 15-20% der Tel Aviver BürgerInnen identifizieren sich als Teil der LGBTQ-Gemeinde!), kämpfen andere Teile des Landes, ähnlich wie in Deutschland, weiterhin mit Homophobie. Und während die Netanjahu Regierung die schwulen- und lesbenfreundliche Seite Israels übermäßig betone und als Qualitätsmerkmal der israelischen Demokratie hervorhebe, stagniere die liberale Gesetzgebung, die Israel ihren LGTBQ-freundlichen Ruf eingebracht hätte, bereits seit langem.
Ebenso wie in Deutschland ist die Zustimmung der Israelis zur Ehe in den letzten Jahren zwar kontinuierlich gestiegen. Das Problem ist hier aber eher struktureller Natur: Auch wenn, wie in Deutschland, ca. 80% der Bevölkerung die gleichgeschlechtliche Ehe unterstützten, gibt es in Israel, Dank des überproportionalen Einflusses der Orthodoxen Jüdischen Fraktion im Parlament, generell keine Zivilehe. In Israel werden alle offiziellen Hochzeiten durch das Rabbinat ausgeführt. Um staatlich heiraten zu können, reisen auch heterosexuelle Israelis daher seit jeher ins Ausland. Innerhalb Israels werden diese Hochzeiten anerkannt – obwohl sie rechtlich nicht mit einer religiösen Ehe gleichgesetzt werden. Homosexuelle Paare machten sich diese Praxis zunutze und konnten 2006 vor dem Obersten Gericht die Anerkennung im Ausland geschlossener, gleichgeschlechtlicher Zivilehen erstreiten. Die rechtliche Grundlage ähnelt der US-amerikanischen Common Law Marriage. Doch laut Gross ist die rechtliche Durchsetzung der staatlichen und somit der gleichgeschlechtlichen Ehe innerhalb der nächsten Jahre nicht zu erwarten. Er geht davon aus, dass die religiösen Parteien der derzeitigen Rechtsregierung Netanjahus eine diesbezügliche Gesetzesänderung mit allen Mitteln torpedieren würden – und dazu aufgrund der wackeligen Koalitionsmehrheit auch die Macht haben. Das fast alle anderen israelischen Parteien die gleichgeschlechtliche Ehe unterstützen, nutzt da wenig.
Auch drückt der Schuh im Bereich des Familienrechts: Zwar dürfen homosexuelle Israelis seit 2000 die biologischen Kinder ihrer PartnerInnen adoptieren und seit 2008 theoretisch auch Kinder, bei denen keine biologische Verwandtschaft vorliegt. Dennoch werden heterosexuelle Paare in der Praxis bei der Adoption bevorzugt. Bei homosexuellen Paaren kommt der Adoptionsprozess oft nur zustande, wenn die Adoptionskinder vorher nicht an heterosexuelle Paare vermitteln werden konnten. Die Möglichkeit, ein Kind durch die Austragung einer Leihmutter zu bekommen, ist für homosexuelle Paare in Israel grundsätzlich nicht gegeben. In Deutschland ist, für homosexuelle wie auch für heterosexuelle Paare, nur die altruistische Leihmutterschaft erlaubt.
Und so gilt nach wie vor: bei allem berechtigten Stolz für die Tel Aviver Pride-Szene wartet auch auf die LGTBQ-Community in Israel noch eine Menge Arbeit.