Israel hat es bislang nur einmal geschafft, am WM Turnier teilzunehmen. Dieses Ereignis liegt bereits 40 Jahre zurück, und seitdem scheidet die israelische Nationalmannschaft immer wieder in der Vorrunde aus. Unter die letzten 32 Mannschaften kommt man nicht, und ein einziges Tor, das Motale Spiegler für Israel damals, anno 1970, geschossen hat, dient bis heute (in schwarz-weiß) als Trost für die Nation.
Da der israelische Fußball-Fan während den Weltmeisterschaften seit 1970 nicht für die eigene Mannschaft fiebern kann, sucht er sich als Ersatz und Kompensation ein Land aus, mit dem er sich aus einem mit Fußball nicht unbedingt zusammenhängenden Grund identifizieren kann. So gibt es in Israel, einem Einwanderungsland, fanatische Anhänger des argentinischen, brasilianischen, holländischen etc. Fußballs. So schafft man sich auch die „Feinde“, und so kann man weniger frustriert die Weltmeisterschaft erleben. Wohin gehört aber Deutschland in diesem Schema?
Die WM gibt Journalisten, Kommentatoren und Fußballspielern die Gelegenheit, sich ausgiebig über die Spiele in den Medien zu äußern. Als ich am Vorabend des Spiels Deutschland – Australien ein Fernsehstudio betrat, in dem eine bunte Runde die WM besprach, wurde ich, der „Deutschland-Experte“ von einem orthodoxen Journalisten zuerst mit „Heil Zimmermann“ begrüßt, bevor die Moderatorin, Frau Grant, die Frau des ehemaligen Trainers der israelischen Fußballmannschaft, die direkte Frage an mich richtete: „Wieso hassen alle die deutsche Nationalmannschaft?“
Als Historiker, der sich sowohl mit den deutsch-israelischen Beziehungen wie auch mit der Geschichte des Sports befasst, reagierte ich mit der Gegenfrage: Woher denn diese Hypothese? Denn nicht nur meine eigene Erfahrung, sondern die Umfragen zu diesem Thema, die mein Institut seit Jahren führt, beweisen, dass die Grundannahme falsch ist. Wie so oft sind es auch in diesem Fall meist die (ignoranten) Journalisten, wie auch manche Politiker, die Deutschland auch im Fußball als Hassobjekt betrachten. Die Mehrheit der Fußball-Interessierten wie auch die Mehrheit der Bevölkerung hat sich in den letzten 15 Jahren eine ganz andere Haltung sowohl zu Deutschland als auch zum deutschen Fußball zueigen gemacht!
Kurz nach der Wiedervereinigung, also vor mehr als 15 Jahren, war eine bestimmte Reserviertheit beim Thema Deutschland zu beobachten, aber seit Beginn des 21. Jahrhunderts antworten mehr als 70% der israelischen Juden (auf die arabische Minderheit in Israel komme ich später zu sprechen) mit „ja“ auf die Frage, ob die Beziehungen zu Deutschland normal seien und ob das Deutschland von heute tatsächlich ein „anderes Deutschland“ geworden sei.
Auf diesem Hintergrund ist für die meisten Israelis auch der deutsche Fußball „ganz normal“ geworden. Einer der vier israelischen TV-Sportkanäle überträgt jede Woche direkt ein bis drei Spiele der Bundesliga, mit hebräischem Kommentar. Spiele von israelischen Mannschaften gegen deutsche Mannschaften gehören mittlerweile zum Fußball-Alltag. In der letzten Saison verlor Maccabi Haifa 0:3 gegen Bayern München in der Champions League und Hapoel Tel Aviv hat in der Europa-League sogar 1:0 gegen den HSV gewonnen. Der sachliche Zugang zum Thema deutscher Fußball ist auch nicht neu. Der Durchbruch gelang bereits 1970, als Borussia Mönchengladbach in Israel gegen eine israelische Auswahl 7:0 gewonnen hatte und für ihre Leistung applaudiert wurde.
Dass Hitler kein Fußballfan war, hat der Durchschnittsisraeli nicht zur Kenntnis genommen. Unbekannt bleibt für ihn aber auch die Tatsache, dass Juden im deutschen Fußball vor 1933 eine wichtige Rolle gespielt haben und dann im Rahmen der Judenpolitik des 3. Reichs ausgestoßen wurden. Eigentlich hätte man erwartet, dass der Mann, der für Deutschland 10 Tore in einem Spiel der Nationalmannschaft geschossen hatte, - nämlich Gottfried Fuchs, ein deutscher Jude, vor hundert Jahren im Spiel gegen Russland - mindestens bei Trivia-Liebhabern, die als Experten in Fernseh-Shows und Quiz auftreten (Welcher Jude hat für eine Nationalmannschaft in einem Spiel 10 Tore geschossen?), einen Ehrenplatz einnimmt. Doch das ist nicht der Fall. Die Einstellung zum deutschen Fußball hat sowohl beim Publikum als auch bei den Journalisten nichts mit der eigentlichen Geschichte zu tun, sondern mit Vorurteilen einerseits und mit der gegenwärtigen Situation, in der sich Israel befindet, anderseits.
Da, wie gesagt, Israel in den WM- und EM- Endrunden nur by-proxi, also stellvertretend präsent ist, werden diese Meisterschaften auch zum Politikum. In diesem Zusammenhang wird auch das Thema deutsche Nationalelf politisiert. Besonders akut kam das während der WM 1994 zum Ausdruck, also nach der Wiedervereinigung und den rassistischen Ausschreitungen in Deutschland, wo das pro und contra Deutschland ein Thema war. Eine scharfzüngige israelische Journalistin Namens Irit Linur hat in der liberalen Zeitung „Haaretz“ nicht nur ihr Hass auf den deutschen Fußball verkündet, weil in ihr der Hass auf Deutschland kochte, sondern sie attackierte aufs Schärfste auch die „Zimmermanns und Zuckermanns“, also israelische Historiker, die ihre Vorurteile und Geschmacklosigkeit kritisierten. Frau Linur und Frau Grant bleiben auch heute beim Alten, registrieren aber nicht, dass mittlerweile die israelische Gesellschaft einer anderen Meinung ist.
Dr. Mina Tsemach, die israelische Parallele zu Noelle-Neumann, veröffentlichte Anfang dieser Woche die Ergebnisse einer repräsentativen Meinungsumfrage. Vor den Halb-Finale Begegnungen wollte sie erfahren, für welche Mannschaft die Israelis sind. Zwar war, wie erwartet, die holländische Mannschaft an erster Stelle mit 31% der Befragten, aber Deutschland mit 30% war an zweiter Stelle, mit einem großen Abstand vor Spanien und Uruguay. Mehr noch. Bei der Beantwortung der Frage „Wen hast Du seit Beginn des Turniers unterstützt?“ kam Deutschland auf die dritte Stelle, nach Argentinien und Holland.
Vielleicht hätte eine Umfrage am Anfang des Turniers oder nach dem Halb-Finale Debakel gegen Spanien andere Zahlen ergeben. Jedenfalls galten die von der Demoskopin Tzemach vorgelegten Umfrageergebnisse als eine Überraschung, obwohl sie eigentlich keine waren. Denn spätestens seit der WM 2006 sind die Sympathien der Israelis für den deutschen Fußball offenkundig geworden. Klinsmann als Teamchef war nicht mehr mit dem Klischee vom einfallslosen, defensiv-orientierten, mechanisch-agierenden deutschen Fußball zu vereinbaren. Deutschland präsentierte sich bereits 2006 als eine lockere Fußball-Nation, und das Klischee von der langweiligen, nur auf Effizienz bedachte Spielart, hat sogar bei den hartnäckigen Anti-Deutschen (mit Ausnahme von Linor, Grant und Co.) tiefe Risse bekommen. Noch vor der WM 2006 ergab eine repräsentative Umfrage, die das Koebner Institut durchführte, dass 60% der Israelis eine WM in Deutschland als eine „wie in jedem anderen Land“ betrachteten. Von den übrigen 40% war etwa die Hälfte wegen der Erinnerung an das Massaker an den israelischen Sportlern während der olympischen Spiele 1972 in München gegen das Austragen einer WM in Deutschland und nur 20% „wegen der NS Vergangenheit“. Nur bei 1% erweckte die Frage die Erinnerung an die Olympischen Spiele 1936.
Wie bereits erwähnt, spielt für Israelis auch beim Thema Fußball die aktuelle Politik eine entscheidende Rolle – deshalb war die iranische Mannschaft, als sie bei der letzten WM dabei war, tatsächlich „von allen gehasst“. Merkels Deutschland, das der israelischen Politik gegenüber äußerst tolerant ist, ist kein Erzfeind mehr, auch nicht auf dem Fußballplatz – das bewiesen die Talk-backs, die auf die vermeintlich überraschende Umfrage von Mina Tzemach reagierten.
Mit besonderem Interesse verfolgt man in Israel nicht nur den neuen Stil der deutschen Nationalelf, sondern auch ihre ethnische Vielfalt. Bei der letzten WM, wo bereits Asamoah und Owomoyela, wie auch Klose und Podolski dabei waren, war es noch kein Thema. Diesmal wurde die multi-kulti Mixtur heftig diskutiert. Die Tatsache, dass an der deutschen Mannschaft viele Spieler mit Migrationshintergrund teilnehmen, wurde aus unterschiedlichen Gründen und in den verschiedenen politischen Lagern positiv registriert. Viele sahen hier naturgemäß einen Beweis für den neuen Charakter der deutschen Zivilgesellschaft. Linke, die in Israel für die Gleichberechtigung der Nicht-Juden und gegen die Parole des „jüdischen Staates“ kämpfen, betrachten die Entwicklung in Deutschland, was „ethnische Reinheit“ anbetrifft, für beispielhaft. In diesem Lager bewunderte man die Distanzierung vom Ethnozentrismus und wünscht sich eine ähnliche Entwicklung in Israel. Aber auch für traditionelle, meist rechts-orientierte Deutschland-Hasser gilt diese Entwicklung als „mildernde Umstände“, denn die Sympathie für die deutsche Mannschaft ist deshalb nicht gleich Sympathie für die „wirklichen Deutschen“. Hier kommt der israelische Rassismus zum Ausdruck: Viele rezipieren deutsche Bürger mit Migrationshintergrund nicht als Deutsche, weil sie absurderweise an die arische Identität der Deutschen glauben.
Die so heterogene israelische Gesellschaft zeigt auch zum Thema Deutschland mehr als ein Gesicht. Schaut man genauer auf die Ergebnisse der Meinungsumfragen, ergibt sich eine positive Korrelation zwischen politischer Positionierung und Einstellung zum Thema Deutschland, auch zum Thema deutscher Fußball. Auf dem rechten, nationalistischen Flügel der israelischen Politik ist mehr Reserviertheit gegenüber Deutschland verbreitet als auf dem linken Flügel – das kommt im Allgemeinen, beim Thema deutsche Kultur (z.B. Wagner Aufführungen in Israel) oder spezifisch beim Thema deutscher Fußball zum Ausdruck. Aber eine noch eindeutigere Korrelation gibt es zwischen Religiosität und Abneigung gegenüber Deutschland. Je orthodoxer, also religiöser, man ist, desto unversöhnter steht man den Deutschen gegenüber. Dass die Ultraorthodoxen sich weniger für Sport oder Fußball interessieren, könnte auch das gute Abschneiden der deutschen Nationalelf in der Gunst der Israelis erklären. Der Journalist, der mich mit „Heil Zimmermann“ begrüßte, war allerdings ultra-orthodox.
Nun sind etwa 75% der Israelis Juden, aber mehr als 20% der Staatsbürger Araber, und auch für sie ist der deutsche Fußball ein Thema. Die israelischen Araber bzw. Palästinenser haben traditionell Deutschland unterstützt, weil für die Juden die historische Erinnerung angeblich ein Argument gegen die Sympathie für die deutsche Mannschaft war. Tatsächlich, beim Endspiel 1974 war die Mehrheit der Juden für die holländische Mannschaft und die Mehrheit der israelischen Araber für die Deutschen. Das hatte auch damit zu tun, dass Holland sich als Bastion des Widerstands gegen die Nazis in die kollektive Erinnerung eingeprägt hatte. Mittlerweile lernten einerseits auch die israelischen Juden etwas über holländische Kollaboration mit dem Dritten Reich, während anderseits der bereits erwähnte Prozess der Normalisierung sich fortsetzen konnte. Und doch bleibt die Sympathie für die deutsche Nationalmannschaft bei israelischen Arabern übermäßig groß. Dies gilt allerdings auch für die Palästinenser in den besetzten Gebieten, die vielleicht deswegen Deutschland unterstützen, weil sie noch nicht begriffen haben, dass es das „andere Deutschland“ gibt, und der Antisemitismus nicht mehr zu den Merkmalen des gegenwärtigen Deutschtums gehört. Die israelischen Araber können jedenfalls die Zeit der WM ausnutzen, um Fahnen zu hissen – die der Nationen, die an den Spielen teilnehmen. Und da gehört die deutsche Fahne zu den populärsten Fahnen. Israelische Araber haben ja ein Problem mit der blau-weißen, sehr jüdischen Fahne Israels, dürfen anderseits nicht die palästinensischen Farben zeigen, und bringen ihr Unbehagen mit Hilfe der Farben aus dem Ausland, und vor allem der Farben, von den man vermutet, dass sie für israelische Juden eine Provokation sind, zum Ausdruck. Nun lernen aber auch die israelischen Araber, was die Journalisten noch nicht mitbekommen haben, nämlich, dass die israelischen Juden eine Unterstützung des deutschen Fußballs nicht mehr als Provokation rezipieren.
Dass Deutschland nicht im Endspiel steht, könnte diesen politischen Erfolg gefährden, denn der Schwung ist weg. Ob das Erreichen des dritten Platzes eine Art Wiedergutmachung werden kann, steht offen.
Moshe Zimmermann, Jerusalem
8. Juli 2010