Menschenrechte – nicht für alle Menschen - Publications

Ursula Wokoeck

Zum internationalen Tag der Menschenrechte wurden auch in Israel verschiedene Aktionen organisiert. Die zentrale Veranstaltung fand am 11. Dezember 2009 in Tel Aviv statt. Es war die erste Demonstration für Menschenrechte („Human Rights March“) in Israel. Es gelang der israelischen Bürgerrechtsorganisation „Association for Civil Rights in Israel“ (ACRI), eine sehr breite Koalition von mehr als 100 Nichtregierungsorganisationen (NGOs) zu bilden.  Neben NGOs, deren Arbeit sich auf die Menschenrechte im allgemeinen richtet, beteiligten sich auch viele, deren Engagement sich auf spezifische Themen oder Gruppen konzentriert, wie Studenten, soziale Gerechtigkeit, Umweltschutz, die Rechte von Homosexuellen, der palästinensischen Bevölkerung Israels, von Migranten, sowie Teile der Frauenbewegung.  Mehrere tausend Menschen fanden sich in Tel Aviv unter dem zentralen Slogan „Ayn Mazav“ („No Way“ – „auf keinen Fall“) zusammen, um gegen die fortschreitende Zersetzung der Demokratie in Israel und für einen uneingeschränkten Menschenrechtschutz für alle Menschen in Israel und in den besetzten Gebieten zu demonstrieren.

Während der Veranstaltung fand auch die Verleihung des Emil-Grunzweig Menschenrechtspreises für 2009 statt. Dabei handelt es sich um eine Auszeichnung, die ACRI seit 1981 alljährlich für besondere, herausragende Beiträge zum Schutz der Menschenrechte in Israel verleiht. 1983 wurde der Preis umbenannt, in Gedenken an Emil Grunzweig, der in dem Jahr während einer Peace Now Demonstration in Jerusalem von einem Rechtsextremisten, der eine Handgranate in den Demostrationszug wurf, ermordet wurde.  Der Preis für 2009 wurde geteilt. Zum einen ging er an Ruth und Paul Kedar, die 2005 die Organisation „Yesh Din“ („Es gibt Recht“) gründeten. Yesh Din setzt sich für eine grundlegende strukturelle Verbesserung der Menschenrechtssituation für die palästinensische Bevölkerung in den besetzten Gebieten ein und versucht die Praktiken der israelischen offiziellen Stellen unmittelbar zu verändern.  Die Organisation konzentiert ihre Arbeit auf die Dokumentation und Veröffentlichung von genauen und aktuellen Informationen zu den systematischen Menschenrechtsverletzungen in den besetzten Gebieten. Außerdem versucht sie diese Verletzungen ins öffentliche Bewusstsein bringen und die Öffentlichkeit dagegen zu mobilisieren und leistet Rechtshilfe für die Opfer. Die Mitglieder von Yesh Din sind Voluntäre, die systematisch professionelle Unterstützung von Anwälten, Menschenrechtsexperten und Werbefachleuten heranziehen.

Der zweite Preisträger, Nir Katz, erhielt die Auszeichnung posthum. Der 26-Jährige wurde Anfang August 2009 bei einem Anschlag auf einen Club für homosexuelle Jugendliche in Tel Aviv ermordet, in dem er drei Jahre lang als Betreuer gearbeitet hatte. Der maskierte Mörder kam an einem Samstagabend in den gutbesuchten Club und schoss mit einer automatischen Waffe wahllos in die Menge. Bei dem Anschlag wurde auch die 16-jährige Liz Trubeshi ermordet, und 10 weitere Menschen verletzt.  Nir Katz erhielt den Preis für seine außerordentlichen Bemühungen um die Betreuung von homosexuellen Jugendlichen, die ganz besonders unter der Ausgrenzung und Ächtung der Gesellschaft und nicht selten auch ihrer Familien leiden. Nirs Mutter nahm den Preis im Namen ihres ermordeten Sohns entgegen.

Wie die lange Liste der an der Demonstration teilnehmenden Organisationen zeigt, spielen Menschenrechtsfragen eine zentrale Rolle im politisch-sozialen Engagement von Personen und NGOs, insbesondere im linken Oppositionsspektrum der öffentlichen Debatte. Es gibt zahlreiche spezifische Kampagnen, bei denen unter anderem auch Demonstrationen als öffentliches Druckmittel eingesetzt werden. Im Dezember 2009 traten neben einer Reihe von kleineren drei große Kampagnen auf diese Art hervor. Die schon seit Jahren stattfindenden wöchentlichen Demonstrationen (jeden Freitag) von israelischen Aktivisten zusammen mit der Widerstandsbewegung der palästinensischen Bewohner von Bil’in und Nilin (bei Modi’in) gegen den Mauerbau auf palästinensischem Land haben im Dezember eine neue Schärfe erhalten, nachdem israelische Sicherheitskräfte Abdallah Abu Rahman, einen Lehrer aus Ramallah und seit 2004 ein führendes Mitglied des palästinensischen gewaltlosen Widerstands gegen den Mauer- und die Siedlungsbau, in Ramallah verhaftet haben.  Auch finden jeden Freitag neben anderen Aktionen der Solidarität mit den betroffenen Menschen Demonstrationen gegen die israelische Siedlungspolitik in dem palästineneischen Stadtteil Sheikh Jarrah in Ost Jerusalem statt.  Zum Jahrtag des Militärangriffs auf Gaza („Operation gegossenes Blei“) standen auch landesweite Demonstrationen gegen die weiterhin bestehende Blockade des Gazastreifens für Ende Dezember an.  Die internationale Kampagne gegen die anhaltende Blockade hatte den 31. Dezember als Stichtag für die demostrativen Aktionen gesetzt.  Da dies ein normaler Arbeitstag in Israel ist, wurde die landesweite Demonstration geteilt. Neben mehreren lokalen Demonstrationen gab es so am 31. eine landesweite Demonstration in der Nähe des Erez Checkpoint (am Eingang zum Gazastreifen) und am 2. Januar eine zweite landesweite Demonstration in Tel Aviv.

Da diese landesweiten größeren Aktionen weitgehend von dem selben, relativ kleinen Kreis von Menschenrechtsaktivisten getragen werden, die sich darüberhinaus in vielen kleineren konkreten Projekten engagieren, mag der Beschluss noch eine weiter große landesweite Demonstration zu organisieren, erstaunen. Die Entscheidung eine Demonstration für Menschenrechte auf der Basis einer beispiellos breiten Koalition zu organisieren wurde von der Überzeugung getragen, dass es notwendig ist aufzuzeigen, dass es sich bei den verschiedenen Menschenrechtsverletzungen nicht um isolierte „Ausnahmephänomene“ handelt, sondern um eine systematische Entwicklung, die die gesamte Gesellschaft und deren Fundamente bedroht.

Grundlage dieser Einschätzung war vor allem auch der von ACRI Anfang Dezember veröffentlichte Menschenrechtsbericht für 2009.  Der Bericht kommt zu dem Ergebnis, dass in Israel und in den besetzten Gebieten Menschenrechte zunehmend systematisch an Bedingungen gebunden werden – eine Praxis, die ihrem Sinn widerspricht. Zusammenfassend hebt der Bericht folgende Hauptpunkte hervor:
Zum Thema Meinungsfreiheit stellt der Bericht für 2009 eine besorgniserregende Zunahme von Einschränkungen fest, insbesondere gegenüber Personen und Organisationen, die die Regierung kritisieren. Im Rahmen der legalen und gewaltfreien Aktionen gegen den Militärangriff auf Gaza („Operation gegossenes Blei“) wurden Demonstrationen auseinandergetrieben, Demonstranten ohne triftigen Grund verhaftet und Genehmigungen für Demonstrationen nicht erteilt – aufgrund der vertretenen Meinungen. Durch mehrere Gesetzesentwürfe wurde versucht, das Recht auf Meinungsfreiheit in noch nie dagewesener Weise zu beschränken. So sollte das „Nakba Gesetz“ das Begehen des israelischen Unabhängigkeitstags als Trauertag (viele palaestinensische Israelis gedenken an diesem Tag der „Nakba“, d.h. der Katastrophe) unter Strafe (Gefängnis) stellen. Mit einem „Loyalitätsgesetz“ sollte denjenigen die Staatsbürgerschaft entzogen werden, die nicht bereit sind, dem Staat ihre Loyalität  zu schwören. 

Auch stellt der Bericht einen Trend zur Delegitimation von Menschenrechtlern fest.  Demnach ergriffen leitende Regierungskreise Massnahmen zur Unterdrückung von Menschenrechtsaktivisten und Mitglieder von Organisationen, die sich für gesellschaftliche Veränderungen einsetzen, sofern diese alternative Positionen vertreten. Zu diesen Massnahmen gehörten aggressive Medienkamagnen, Demonisierung, die Verbreitung falscher Informationen und Versuche, die finanzielle Basis dieser Personen und Organisationen zu untergraben. Ein Beispiel dafür war der Angriff des Militärsprechers auf „Breaking the Silence“ („Das Schweigen brechen“), eine Gruppe, die Aussagen von Soldaten sammelt, die in den besetzten Gebieten gedient haben sowie von Soldaten, die im Gaza-Krieg kämpften. Ein anderes Beispiel ist Innenminister Eli Yishais Angriff auf Organisationen, die sich für die Rechte von Migranten einsetzen – Yishai bezeichnete sie als eine „Gefahr für das zionistische Projekt“.

Zur Situation der arabischen Staatsbürger Israels stellt der Bericht fest, dass sie über die seit Staatsgründung andauernde Diskriminierung hinaus im letzten Jahr besonders harten Angriffen auf ihre Bürgerrechte ausgesetzt waren. Neben den bereits genannten Trends, von denen viele diesen Teil der Bevölkerung besonders beeinträchtigen, fand der Bericht noch weitere. So gab Außenminister Avigdor Lieberman bekannt, dass nun mehr die Absolvierung des Militärdiensts oder des Nationaldienstes Zulassungsvoraussetzung zur Teilnahme an Ausbildungskursen des Außenministeriums ist. Erziehungsminister Gidon Sa’ar machte seinen Plan bekannt, wonach Schulen mit hoher Rekrutierungsrate zusätzliche staatliche Gelder erhalten sollen. Diese Massnahmen sind ein klarer Verstoss gegen den Gleichheitsanspruch der arabischen Staatsbürger Israels, die in der Regel nicht in der Armee dienen; sie diskiminieren auch gegenüber ultra-orthodoxen Juden, Menschen mit Behinderungen, und anderen. Außerdem wird dadurch die weit verbreitete Vorstellung, dass die arabischen Staatsbürger Israels eine fünfte Kolonne darstellen, bestärkt.

Unter Bezugnahme auf eine von Ha’aretz durchgeführten Umfrage stellt der ACRI Bericht wachsenden Intoleranz und Rassismus in allen Teilen der israelischen Gesellschaft gegenüber bestimmen sozialen Gruppen fest. Obwohl zum Beispiel der oben erwähnte Anschlag auf den Club für homosexuelle Jugendliche von einem breiten Spektrum offizieller Stellen öffentlich verurteilt wurde, zeigen Beiträge in Webforen und Talkbacks einen tief-sitzenden Hass und Abscheu in der Öffentlichkeit gegenüber homosexuellen Menschen.

In Bezug auf des Recht auf angemessenen Wohnraum dokumentiert ACRI zahlreiche Fälle der Diskriminierung durch verschiedene Mechanismen, wie zum Beispiel Zulassungskomitees, gegenüber Arabern, religiösen Gruppen, Menschen aus einkommensschwachen Schichten und anderen.

Das Recht auf medizinische Versorgung wird durch die fortschreitende Privatisierung der Medizin und die steigenden Sätze der Selbstbeteiligung der Krankenversicherungen ausgehölt. Die Folge ist, dass sich viele Menschen ärmerer Schichten, selbst wenn sie krankenversichert sind, die medizinische Behandlung nicht leisten können, und dass Ärzte und Apotheker Hintertüren finden müssen, um ihren Patienten dennoch die erforderliche Behandlung zu ermöglichen.

In den besetzten Gebieten bestehen in der Praxis nur Menschenrechte für israelische Staatsbürger. Der ACRI Bericht stellt fest, dass während des Militärangriffs auf den Gaza Streifen („Operation gegossenes Blei“) Israel für die Tötung zahlreicher Zivilisten verantworlich war und es auch weiterhin die gesamte Bevölkerung des Gaza Streifens, einschliesslich der Minderjährigen, als Feinde betrachtet, die kollektiv zu bestrafen sind. Trotz der wiederholten Aufrufe von Menschrechtsorganisationen in Israel und aus dem Ausland und trotz des konkreten Verdachts auf Verstösse gegen internationales Recht hat Israel immer noch keine unabhängige Untersuchung der Vorgänge eingeleitet.

In der Westbank leben, nach dem Bericht, Israelis und Palästinenser weiterhin in zwei separaten und ungleichen Welten: Es ist Palästinensern verboten bestimmte Hauptverkehrsstrassen zu benutzen, die zum expliziten Nutzen der Israelis gebaut wurden; Israelis und Palästinenser unterstehen zwei verschiedenen Rechtssystemen, wobei das Militärrecht, dem die Palästinenser unterworfen sind, viel schärfer ist und häufig das Recht auf ein ordnungsgemäßes Verfahren verletzt; die Palästinenser in der Westbank leiden unter einem akuten Wassermangel, da das Wasser für israelische Zwecke verwendet wird; und Palästinenser fallen weiterhin Angriffen von israelischen Siedlern in der Westbank zum Opfer, wobei die Polizei und die Armee sie nicht wie gesetzlich vorgesehen beschützen und die Täter nicht angemessen strafverfolgen.

Weiterhin stellt der ACRI Bericht eine Aushöhlung der Demokratie fest. 2009 wurde wiederholt versucht, problematische Gesetze in verdeckter und überstürzter Form zu verabschieden, mit der Absicht eine öffentliche Debatte zu umgehen. Nach dem Bericht war dies bei dem Gesetz zur Errichtung einer biometrischen Datenbank, dem Gesetz zur Landreform, und mehreren grundlegenden Änderungen in bezug auf die staatliche Sozial- und Wirtschaftpolitik der Fall.  Darüberhinaus dokumentierte ACRI eine beunruhigende Tendenz des Staats, in zunehmenden Masse Entscheidungen des Obersten Gerichts zu ignorieren und seine illegalen Praktiken fortzusetzen. Nach dem Bericht führt dies zur Verletzung von einem breiten Spektrum von Menschenrechten und stellt die Grundlage der demokratischen Institutionen in Israel in Frage.

Sami Michael, der Präsident von ACRI und ein bekannter Schriftsteller, erklärte zu dem Bericht für 2009: „Jeder Mensch hat als Mensch grundlegende Rechte und diese Rechte sind unveräußerlich. Wenn Menschenrechte von Bedingungen abhängig gemacht werden, unterminiert dies die Grundlage der israelischen Demokratie.“

Ursula Wokoeck
9. Januar 2010


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