Hundertjahrfeier in Tel Aviv-Yafo

30. Mai 2009

Von Anfang April bis Mitte Dezember 2009 feiert die Stadt Tel Aviv-Yafo ihren einhundertjährigen Geburtstag als „erste hebräische Stadt“.  In diesem Rahmen finden mehr als 400 Veranstaltungen, zum Teil auch im Ausland (New York, San Diego, Paris, Wien und Kopenhagen), statt, für die ein Budget von 44 Millionen Schekel (ca. 8 Millionen Euro) von der Stadt bereitgestellt wurde.  Wie Konzerte, Ausstellungen, Film-, Theater- und Tanzfestivals, die hebräische Buchmesse, die „weiße Nacht“ (die Tel Aviv als Bauhaus-Stadt feiert), der Marathon und die „Pride Parade“ gehören viele dieser Veranstaltungen zum normalen Kulturprogramm der Stadt, die im Rahmen des diesjährigen Jubiläums in großem oder größerem Stil stattfinden. Daneben gibt es Projekte der Stadt, die in diesem Jahr fertig sein sollen, so dass die festliche Eröffnung im Rahmen der Jahrhundertfeiern begangen werden kann. Dazu gehören zum Beispiel die Erneuerung der Strandpromenade vom Dolphinarium bis zur Stadtgrenze von Bat Yam im Süden, die Sanierung und Umgestaltung des Hafens von Jaffa und die Sanierung der Bahnhofsstation von Jaffa – alles Projekte im Rahmen der „Gentrifizierungspläne“ für die südliche Stadtteile von Tel Aviv und Jaffa,  oder die Renovierung des Gebäudes des Habima Nationaltheaters, die Erweiterungen der Cinemateque und des Tel Aviv Museums, und die Schaffung eines neuen Kultur- und Unterhaltungszentrums in der ehemaligen Templer Siedlung Sarona,  deren Häuser zum Teil aus dem Areal des Verteidigungsministeriums sehr kostenaufwendig für diesen Zweck „herausgeschoben“ wurden. Natürlich gibt es auch Jubiläums-„Specials“ wie zum Beispiel ein Denkmal für den ersten Bürgermeister von Tel Aviv, Meir Dizengoff, dessen Abbild auf einem Pferd sitzend auf dem Rothschild Boulevard nun die Stelle markiert, an der Tel Aviv als „Ahuzat Bayt“ („Haus mit Garten“) seinen Anfang genommen hat.

So große Feierlichkeiten für den hundertsten Geburtstag einer Stadt sind wohl etwas ungewöhnlich. Kairo hat zum Beispiel 1969 das erste Millenium der Stadt gefeiert. Auch Jaffa, das seit 1949 Teil von Tel Aviv-Yafo ist, kann auf mehrere Jahrtausende der eigenen Stadtgeschichte zurückschauen. Hundert Jahre sind recht kurz für eine Stadt, und im eigentlichen Sinne des Wortes ist Tel Aviv nicht einmal einhundert Jahre Stadt. Im April 1909 fand die Verlosung von 60 Grundstücken auf dem Land einer jüdischen Siedlungsgesellschaft, „Ahuzat Bayt“, statt, mit denen der Grundstein eines neuen jüdischen Viertels in Jaffa gelegt wurde. Das war keineswegs das erste Viertel dieser Art. Bereits 1887 entstanden die ersten Gebäude des ersten, heute als Neve Zedek bekannten, „jüdischen Viertels“ von Jaffa zwischen dem Stadtteil Manshiye (am Meer) und der nordöstlich des Bahnhofs entlang der Bahnlinie  gelegenen deutschen Kolonie (Templer Siedlung).  Ein weiteres Viertel, „Mahane Israel“, später als „Kerem HaTemanim“ (das jemenitische Viertel) bekannt, entstand 1904 am Meer entlang, nördlich von Manshiye.

1910 wurde „Ahuzat Bayt“ in „Tel Aviv“ umbenannt. In Folge von jüdisch-arabischen Zusammenstössen, die bei der Demonstration zum 1. Mai 1921 ihren Anfang nahmen, wurde Tel Aviv von den britischen Mandatsbehörden aus der Stadtverwaltung von Jaffa ausgegliedert und als selbstständige Ortschaft statuiert. Meir Dizengoff wurde 1922 der erste Bürgermeister, und die anderen jüdischen Stadtviertel von Jaffa wurden der Verwaltung von Tel Aviv unterstellt. Ein erster Stadtplan für das Gebiet zwischen dem Meer und der heutigen Ibn Gvirol Strasse bis zum Yarkon-Fluss wurde 1925 entworfen. Eine Stadt im formalen Sinne wurde Tel Aviv allerdings erst 1934 – „die erste hebräische Stadt“. 

Insbesondere aufgrund der fünften Einwanderungswelle (von Menschen, die angesichts des Naziregimes aus Europa flüchteten) wuchs die Stadt schnell und hatte bereits 1937 ca. 150,000 Einwohner. Zum gleichen Zeitpunkt hatte Jaffa nur 69,000 Einwohner, deren Zahl aber auch zunahm. Gemäss dem Zensus von 1945 wohnten ca. 102,000 Menschen (ca. 54,000 Muslime, ca. 17,000 Christen, und ca. 31,000 Juden) in Jaffa, das nach dem UN-Teilungsplan von 1947 palästinensisches Gebiet sein sollte. Nachdem die meisten Einwohner angesichts der sehr heftigen Kämpfe um Manshiye geflüchtet waren, hatte Jaffa 1949 nur noch ca. 4,000 Einwohner. Die israelische Regierung beschloss, es Tel Aviv anzugliedern. Seit April 1950 heißt die Stadt offiziell Tel Aviv-Yafo.

So feiert also in diesem Jahr die Stadt Tel Aviv-Yafo ihr hundertjähriges Bestehen. Mithin ist die Verlosung der Grundstücke in „Ahuzat Bayt“, die als Anfangspunkt gewählt wurde, das zentrale historische Ereignis. Davon gibt es ein bekanntes Foto, auf dem die Gründer (d.h. diejenigen, die an der Verlosung beteiligt waren) in Mitten einer großen Sanddüne versammelt stehen – eine symbolische Repräsentation der Idee, dass die Stadt aus dem Nichts geschaffen wurde. Im Rahmen der Jubiläumsfeier wurde dieses Gruppenfoto mit den Nachfahren der Gründer fast genau ein hundert Jahre danach, am 17. April 2009 (11. April 1909), wiederholt – allerdings nicht am gleichen Ort, der wohl Rothschild Boulevard, Ecke Herzl Straße gewesen wäre. Stattdessen wurde das „Centennial Photo“ – nach Angaben der Stadtverwaltung  – im „Sir Charles Clore Park“ aufgenommen.  Der Park liegt zum Teil auf dem Gebiet des abgerissenen Manshiye Viertels und zum Teil auf dem Land, das ins Meer unter anderem mit dem durch den Abriss entstandenen Bauschutt aufgeschüttet wurde. Die Angabe der offiziellen Website ist allerdings nicht ganz korrekt. Das Ereignis fand an dem nunmehr restaurierten Gebäude des ehemaligen Bahnhofs von Jaffa statt, das nahe dem Park, in östlicher Richtung liegt.

In der offiziellen Konzeption des Jubiläums wird Jaffa übersehen oder aber es werden Teile davon mit eingeschlossen, als handele es sich dabei um Tel Aviv. Das letztere gilt auch zum Beispiel für das für Mitte Juni geplante „blaue Festival“ im Hafen von Jaffa, der nach dem Vorbild des Tel Aviver Hafens nach langjähriger Vernachlässigung erneuert wird. Das „blaue Festival“ ist dem mediterranen Leben (vertreten vor allem durch Musik und Essen) gewidmet, während das „weiße Festival“ die Bauhausstadt zelebriert  und das „grüne Festival“ die Parkanlagen am Yarkon-Fluss. Diese offizielle Lesart ist allerdings nicht ganz unangefochten.

Die israelische Organisation “Zochrot” (“Sich Erinnern“), die sich zum Ziel gesetzt hat, „die Nakba, die palästinensische Katastrophe von 1948, mehr ins Bewusstsein [der Öffentlichkeit] zu bringen“,  organisierte aus Anlass des Nakba-Tages (15. Mai) und der Hundertjahrfeiern eine Tour zu den zerstörten palästinensischen Orten in Tel Aviv-Yafo. Die Tour begann am Etzel Museum, das sich in einem der wenigen erhaltenen Gebäude des ehemaligen Manshiye Viertels im Sir Charles Clore Park befindet. Von dort setzte sie sich fort über Abu Kabir, Salameh (heute: Kfar Shalem), Jamasin al-Gharbi, Sumayl zur Tel Aviv Universität, die auf dem Land von Shaykh Muwannis errichtet wurde, von dem lediglich ein Gebäude erhalten ist, das heute der Universität als „Faculty-Club“ („Green House“) dient. Die Tour endete im „Unabhängigkeitspark“ neben dem Hilton Hotel am Meer, die beide auf einem muslimischen Friedhof errichtet wurden.

Eine alternative Lesart bietet auch der Dokumentarfilm „Tel Aviv-Jaffa“ von Anat Zeltzer, Modi Bar-On und Gabriel Bibliowicz. Ursprünglich sollte die Dokumentation als zehnteilige Sendung im kommerziellen israelischen Sender „Channel 10“ zum Jubiläum ausgestrahlt werden. Aus Kostengründen wurde daraus lediglich eine (sehr gut recherchierte) dreiteilige Sendung des Kanals 8 des Kabelfernsehns, der hauptsächlich Dokumentarfilme ausstrahlt. Wie der Titel schon zeigt, ist die Dokumentation bemüht, ein gewisses Gleichgewicht herzustellen. So befasst sich der erste Teil ausschließlich mit Jaffa, was wie folgt erklärt wird: „Wir wollten zeigen, dass Tel Aviv aus Jaffa heraus geboren wurde, welches ein Handels- und Kulturzentrum war und das Tor zum Fortschritt für der ganzen Region. [...] Tel Aviv gedeihte auf dem Gedeihen von Jaffa, das mit Napoleon’s Eroberung der Stadt begann, hundert Jahre bevor Tel Aviv gegründet wurde. [...] Zu der Zeit war Jaffa bereits westlich und kosmopolitisch.“ Nach Aussage von Anat Zeltzer hat die Arbeit an der Dokumentation auch gezeigt, dass es über die Entwicklung von Tel Aviv ausgesprochen wenig historisches Bildmaterial gibt, was ihrer Meinung nach kein Zufall ist, sondern eher Ausdruck einer Geschichtslosigkeit in der Konzeption der Stadt. Das letztere wird ihrer Meinung nach in der Einschätzung von Niki (Nissim) Davidov, einem Architekten und Experten für Tel Aviv, bestätigt, wonach Tel Aviv immer die nächste „Gartenstadt“ verfolgt: „von Jaffa nach Neve Zedek, von dort nach Ahuzat Bayt und dann weiter zu der Gartenstadt des schottischen Planers Patrick Geddes im alten Norden, dann weiter nach Ramat Aviv, Ramat Aviv Gimmel usw. ‚Mit der Zeit wurde der Maßstab größer; über die Jahre wurden die Gartenstädte urbaner, aber das Prinzip blieb dasselbe’“.

Die Geschichtslosigkeit betrifft nicht nur Jaffa. So bezieht sich keine der mehr als 400 Veranstaltungen im Rahmen der Jubiläumsfeiern auf die Tatsache, dass Tel Aviv für fast ein halbes Jahrhundert (von den 30er bis zu den frühen 70er Jahren) ein wichtiges Zentrum der hasidischen Bewegung war, bevor diese ihren Schwerpunkt nach Bnei Brak verlagerte.  Doch der vergessliche Umgang mit der religiösen Seite der Geschichte der Stadt zeigte sich auch in bezug auf die Gegenwart. So war im Rahmen der Jubiläumsfeiern eine Gebetsversammlung in der Großen Synagoge in der Allenby Strasse für Anfang April vorgesehen. Auf der Broschüre, die die Veranstaltung ankündigte, erschien unten als einer der beiden Hauptsponsoren der Jubiläumsfeiern auch das Logo von AM:PM, einer Kette von Lebensmittelläden, die 24 Stunden und 7 Tage in der Woche geöffnet sind. Die ultra-orthodoxen Kreise der Stadt sahen darin, wohl nicht zu unrecht, einen Ausdruck der Missachtung.

Ende März ging Yael Ben Yefet, Stadtratsmitglied für die links-grüne Oppositionsliste Ir leKulanu, noch einen Schritt weiter in der Kritik an der Konzeption der Jubiläumsfeiern: „In Hinblick auf die Hundertjahrfeier der Stadt Tel Aviv-Jaffa, mit all ihrer Pracht und Herrlichkeit, möchten wir ihre Aufmerksamkeit auf die nicht endenden Ungerechtigkeiten in der Stadtverwaltung lenken, die mit dem Versuch begannen, die historischen Tatsachen dadurch zu verfälschen, dass die Gründung des Ahuzat Bayt Viertels im Jahre 1909 als der Anfang der jüdischen Ortschaft auf der kommunal Ebene festgelegt wurde. Wir fordern nicht Ehre für die, die die Mauern von Jaffa 1887 verließen, um das Neve Zedek Viertel zu gründen, oder für die Einwohner der Viertel Neve Shalom, Mahane Yehuda, Mahane Yosef, Shaarei Ahva oder Ohel Moshe. Und nicht einmal für die von dem Mahane Yehuda (später Kerem Hatemanim) Viertel, das 1904 gegründet wurde, circa fünf Jahre vor Ahuzat Bayit, und eigentlich das erste Viertel, das wirklich von Jaffa ausgegliedert wurde. Wir fordern nicht ihre Ehre, da wir uns nicht um Ehre kümmern. Wir wollen die Chronik der Entfremdung, Unterdrückung und Diskriminierung hervorheben, die die Nachkommen der Einwohner dieser Viertel in die Kinder der ‚schwarzen Stadt’  verwandelt – dem Hinterhof von Tel Aviv. Es ist eine historische Tatsache, dass sich die Stadt Tel Aviv aus Jaffa, das vor circa 3000 Jahren gegründet wurde, heraus entwickelt hat, und dass das erste außerhalb gelegene Viertel vor 105 Jahren gegründet wurde. Die Feier der hundert Jahre entspricht im Grunde der Logik der ‚weißen Stadt’, der Logik der Unterdrückung und Diskriminierung, die die Planung der Stadt auf allen Ebenen und zu allen Zeiten charakterisiert hat. In jüngster Zeit bietet dafür der Kampf des Shapira Viertels ein gutes Beispiel, das sich [vergeblich] darum bemühte, finanzielle Mittel für eine Feier in ihrem Stadtteil im Rahmen der Jubiläumsfeiern zu erhalten.  Die Festsetzung von 1909 als Anfangspunkt von Tel Aviv ist der erste, aber höchst symbolische Akt im Versagen der [Stadt]verwaltung gegenüber den Einwohnern der Viertel [im Süden] der Stadt...“.

Wie die Kritik von Ir leKulanu zeigt, werden im Rahmen der Jubiläumsfeiern nicht nur Unzulänglichkeiten im Umgang mit der Geschichte deutlich, sondern auch mit der Gegenwart und Zukunft. Die Frage der Zukunft wurde auch in einem internationalen Symposium zu nachhaltiger Stadtentwicklung aufgegriffen, dass Anfang April im Rahmen der Jubiläumsfeiern stattfand. Dort sollten programmatische Reden, Fallstudien aus der ganzen Welt und Diskussionen mit Bürgermeistern, Stadtplanern, Architekten, Designern, Künstlern, Journalisten und Professoren von führenden Universitäten aus dem In- und Ausland die Basis für eine Diskussion für die Entwicklung von Tel Aviv-Yafo in den nächsten hundert Jahren bieten.  Der in Tel Aviv ansässige Stadtplaner und Autor, Jesse Fox schließt seinen Bericht über das Symposium mit den folgenden Bemerkungen: „‚Nachhaltigkeit’ ist eines jener Worte, für das jeder seine eigene Definition hat. Fast alles und jedes kann mit genügender Überzeugungsarbeit als ‚grün’ oder ‚nachhaltig’ dargestellt werden. Vielleicht ist die Zeit dafür gekommen, (natürlich mit der vollen und gleichberechtigten Beteiligung aller Betroffenen) ein klares Bild dessen zu entwerfen, wie ein wirklich nachhaltiges Tel Aviv aussehen könnte. Ein ernster Dialog mit den zahlreichen grünen Organisationen und Bürgerinitiativen, die täglich für eine nachhaltigere und humanere Stadt kämpfen (und die, nebenbei bemerkt, nicht zu der Konferenz als Teilnehmer eingeladen waren) wäre ein guter Ausgangspunkt“.